Von Männern und Frauen. Ein Zwischenruf zur Weinstein Affäre

Vorbemerkung: Das Ethos der Philosophie ist intellektuelle Redlichkeit. Dazu gehört, dass ich als Philosoph meine Stimme immer dann zu erheben habe, wenn ich geistige Dynamiken beobachte, die mir für das politische und gesellschaftliche Miteinander bedrohlich erscheinen; und das auch dann – oder gerade dann –, wenn ich dabei an Tabus rühre und folglich mit erheblichen Widerständen rechnen muss;

und das auch – oder gerade dann –, wenn ein Thema so komplex ist, dass ich es unmöglich zuende denken kann und mich folglich angreifbar mache. Das aber sollte einen Philosophen nicht davon abhalten, bedenkliche Dinge zu denken zu geben. Wenn sich herausstellen sollte, dass meine Denkweise falsch ist – sei’s drum. Das Risiko trage ich. Denn was für mich als Philosophen zählt, ist nicht die richtigen Antworten zu geben, sondern die wichtigen Fragen zu stellen.
Das grundlegende Credo der feministischen Theorie besagt, Geschlechteridentitäten seien kulturelle oder soziale Konstrukte. Das heißt: Was „männlich“ oder „weiblich“ ist, definiert sich nicht – zumindest nicht primär – durch biologische oder „natürliche“ Faktoren, sondern durch gesellschaftliche, religiöse, moralische oder wie auch immer geartete, auf jeden Fall aber vom Menschen selbst generierte Kontexte. Diese Grundannahme war für die Pionierinnen und Pioniere des Feminismus wichtig, denn sie allein erlaubte es, sich mit Verve an das große Projekt der Dekonstruktion patriarchaler Denk- und Kulturformen zu machen. In der Folge wurden traditionelle bzw. konventionelle Konzepte von „männlich“ und „weiblich“ sowie deren soziale und kulturelle Implikationen erst in Frage gestellt und dann teils mit Mitteln einer moralischen Umwertung, teils mithilfe politischer bzw. rechtlicher Maßnahmen dekonstruiert.
Dabei aber wurde eines vernachlässigt – und das fliegt uns heute zunehmend um die Ohren: Es ist bislang nicht gelungen, auf eine irgendwie befriedigende Weise eine neue, tragfähige Codierung von „männlich“ und „weiblich“ zu finden. Da jeder Versuch, biologische (oder eben „natürliche“) Faktoren ins Spiel zu bringen, von der herrschenden feministischen Theorie unter Ideologieverdacht gestellt und abgelehnt wird, fällt diese Aufgabe zurück an „die Gesellschaft“ selbst bzw. kulturbildenden Institutionen wie Hochschule, Politik, Kulturbetrieb oder Kirchen zu. Tatsächlich wird dort mit erheblichem Aufwand daran gearbeitet, ein neues Frauenbild zu propagieren und die gesellschaftliche Rolle der Frauen der traditionellen sozialen Position der Männer anzupassen bzw. oder Männer in relevanten Positionen durch Frauen zu ersetzen. Es ist aber nicht erkennbar, dass irgendwo ein offener – nicht ideologisch überformter – Diskurs darüber stattfände, was in unserer Gesellschaft „männlich“ und was „weiblich“ sein soll; vor allem nicht darüber, wie das Verhältnis zwischen diesen beiden Grundqualitäten des Lebens bestimmt und in einen gültigen sozialen Verhaltens-Code übersetzt werden könnte.
Dieses Versäumnis führt zu einer verhängnisvollen Entwicklung, deren Symptome gegenwärtig in der Weinstein-Affäre sichtbar werden: In Ermangelung eines tragfähigen und kulturell vermittelten Ethos der Geschlechterbeziehung wird Geschlechtlichkeit auf ihr physiologisches Fundament reduziert, d.h. vollständig sexualisiert. Wohin das führt, tritt immer deutlicher hervor: Jede Form der Interaktion von Mann zu Frau wird darauf reduziert, ein sexueller oder sexuell motivierter Akt zu sein. „Männlich“ wird infolge dessen – entgegen dem eigentlichen feministischen Dogma – zu einer Chiffre für eine sexuell-gesteuerte, rein biologisch fundierte Geschlechter-Identität, während „weiblich“ – zumindest in den Köpfen der Feministinnen und Feministen – vorerst noch als kulturell zu definierende Eigenschaft gilt. Das führt zu einem eigentümlichen Ungleichgewicht in der Wertung „männlichen“ und „weiblichen“ Verhaltens: Wendet sich ein Mann einer Frau zu, dann gilt das als sexueller Akt; sext eine Frau einen Mann an, gilt es als Ausdruck weiblichen Selbstbewusstseins.
Aber das ist nicht der entscheidende Punkt. Das eigentliche Besorgniserregende der skizzierten Entwicklung liegt in der oben erwähnten Sexualisierung des Geschlechterverhaltens infolge des Fehlens eines kulturell fundierten Codes des Umgangs von Frauen und Männern. Besorgniserregend ist diese Entwicklung, weil sie zu einer Vernichtung dessen führt, was die griechische Philosophie Eros nannte, und ineins damit zu einem Auseinanderfallen der Gesellschaft. Wie das?
Wenn eine Frau einem Mann gefällt, ist das nicht zwangsläufig ein sexuelles Ereignis. Es kann zu einer sexuellen Beziehung führen, es kann aber auch dazu führen, dass dieser Mann der Frau ein Kompliment macht, dass er mit ihr flirtet, dass er ihr Aufmerksamkeit schenkt und sich darum bemüht, sie zu erfreuen. Und zwar, weil er sie — liebt. Ja, weil er sie liebt. Und weil Liebe mitnichten mit Sexualität identifiziert werden kann, versteht man seine erotisch-liebevolle Zuwendung gründlich falsch, wenn man sie als sexuelle Anmache deutet. Hat man aber keine anderen Deutungsparameter zu Hand – wie es zunehmend der Fall zu sein scheint – dann wird jeder freundliche Blick, jede nette Geste, jeder Flirt, ja jede Höflichkeit wie das Offenhalten einer Tür und das Helfen in den Mantel als latenter sexueller Übergriff gesehen. Wenn wir aber so weit sind, dann ist der Eros tot. Dann gibt es keine spielerische Erotik mehr im Geschlechterverhältnis – und wenn es keine Erotik mehr gibt, dann wird alles ernst; dann gibt es entweder nur noch den Kampf der Geschlechter oder bestenfalls ein ethisch-korrektes, feministisch sanktioniertes Verhalten zwischen Männern und Frauen (das fälschlicherweise für Liebe gehalten wird aber weder sie noch ihn glücklich macht, geschweige denn begeistert.)
Damit sollen auf keine Weise sexuelle Übergriffe rechtfertigt werden. Aber es soll zu bedenken gegeben werden, dass eine Hand auf einem Knie oder einem Unterarm, ein flirtender Blick oder ein anzügliches Wort nicht zwangsläufig sexuelle Akte sein müssen. Sie werden erst dazu, wenn uns keine andere Deutungsoption mehr einfällt und kein kultureller Code im Umgang von Männern und Frauen mehr davor schützt, jede Geste als Ausdruck sexuellen Begehrens zu deuten – freilich nur bei Männern.
Das heißt: Wenn Männern nur lang und medienwirksam genug signalisiert wird, dass sie sich als Mann nur sexuell zu Frauen verhalten können, dann werden sie zunehmend genau das tun; und was erst als Kollateralschaden einer verzerrten Wahrnehmung des „Männlichen“ war, wird zu einer erschütternden Realität nicht nur in Hollywood-Studios, sondern überall.
Das könnte anders sein. Nicht dadurch aber wird sich etwas ändern, dass „männlich“ zunehmend zur Chiffre für „aggressiv sexuell triebgesteuert“ umformatiert wird, sondern dadurch, dass wir endlich anfangen, uns der für das Geschlechterverhältnis einzig relevanten Frage zuzuwenden: Was – in Gottes Namen – soll uns eigentlich als „männlich“ und als „weiblich“ gelten. Und wenn wir sodann Spielregeln entwickeln, die es Männern erlauben, „männlich“ zu sein und Frauen erlauben, „weiblich“ zu sein – vor allem im Umgang miteinander. Wir müssen ja nicht unbedingt dahin zurück, dass es für einen Mann selbstverständlich ist, einer Frau im Zug den Koffer ins Gepäcknetz zu hieven oder ihr die Tür aufzuhalten; aber ein bisschen mehr „Gentleman“ würde uns gewiss ebenso guttun wie ein bisschen mehr „Dame“. Es würde jedenfalls das Leben erheblich vereinfachen und das Geschlechterverhältnis endlich wieder entsexualisieren: vielleicht sogar dahin, dass der vertriebene Eros und mit ihm der Zauber des spielerisch-liebevollen Umgangs in unsere Welt zurückkehrt.
Davon sind wir allerdings Lichtjahre entfernt. Wahrscheinlicher ist, dass die Sexualisierung weiter voranschreitet und zunehmend auch die Frauen ergreift. Es ist ja jetzt schon sonderbar genug, dass sich junge und gut ausgebildete Frauen in erstaunlichem Maße rein physiologischen Identitätskriterien anheimgeben und in einem Maße auf ein sexuell ansprechendes Äußeres achten, wie es zu Zeiten eines etablierten Patriarchats nie der Fall gewesen wäre; oder dass sich schon junge Mädchen bereitwillig eher als sexuell erregbarer Leiber definieren und präsentieren, denn als junge Damen. Aber wie sollten sie auch, wenn es nichts und niemanden gibt, der ihnen sagen könnte, was es bedeutet, eine Dame zu sein? Die Folge ist, dass viele junge Leute wohl noch sexuelle Beziehungen eingehen können, dabei aber in keiner Weise mehr die Intensität und Schönheit eines vom Eros durchdrungenen Lebens erleben können.
Auch von dieser Seite zeigt sich die Dramatik des Fehlens einer geistigen und kulturell gelebten Codierung von „männlich“ und „weiblich“. Wir haben – mit einem Wort – keine Kultur der Geschlechtlichkeit mehr bzw. wir haben ein infolge der Sexualisierung geistloses, von jeder spielerischen Leichtigkeit entkeimtes Geschlechterverhältnis. Oder um es mit Martin Buber zu sagen: Frauen und Männer begegnen einander zunehmend als einem Es, das sich ökonomisch, sexuell und auch sonst ihren Bedürfnissen dienstbar machen dürfen, und immer weniger als einem Du, das ihnen gerade in ihrer polaren Andersheit etwas existenziell Wichtiges zu sagen und zu geben hat.
Und daran wird sich – nur scheinbar paradoxerweise – solange nichts ändern, als das feministische Grunddogma in Geltung bleibt, wonach Geschlechtlichkeit nicht naturbedingt ist. Denn solange daran nicht gerüttelt wird, fehlt uns jedes Kriterium dafür, woran wir Maß nehmen könnten, um kulturell konstruierte Codierungen unseres Verständnisses von „männlich“ und „weiblich“ auf ihre Plausibilität hin beurteilen zu können; also die Frage beantworten können, ob ein gesellschaftliches Konstrukt „weiblich“ oder „männlich“ auch stimmt. „Stimmt“ nach welchem Kriterium? Vielleicht doch nach dem Kriterium „naturgemäß“ und mithin „lebensfördernd“. Denn es steht zu erwarten, dass kulturell und sozial konstruierte Geschlechterrollen dauerhaft nur dann funktionieren, wenn sie irgendwie mit der biologischen Realität konkreter Menschen zu tun haben.
Es gibt viel zu tun. Die feministische Theorie scheint mir in eine bedrohliche Sackgasse geraten zu sein, weil sie betriebsblind geworden ist für das konkrete leibliche Leben von Männern und Frauen. Vielleicht, dass sich Feministinnen bald im Hurra den Ingenieuren des Human Enhancement in die Arme werfen, die ihnen in Aussicht stellen, Männer und Frauen technisch so umzubauen, dass deren Biologie endlich ihrer Ideologie entspricht. Dann aber wird all das aus unserer Welt verschwunden sein, was einst den Zauber der Geschlechterbegegnung ausmachte. Wollen wir das wirklich? Oder ist es nicht doch an der Zeit, gemeinsam darüber nachzudenken, wie wir anstelle einer Technik, eine Kultur der Geschlechterbeziehung entwickeln können.